Ich kann Züge mögen, ohne sie zu verstehen.
Die Pritzwalk Lokomotive würde gut zu meinen Möbeln passen.
Sie sieht aus, als wäre sie aus dem Jugendstil gefallen.
Züge brauchen keine Empathie, Züge bringen Dich hin und weg,
wie immer Du es sehen willst.
Manche Züge, Sonderzüge, halten nicht.
Wittenberge ist immer am Zug.
Wittenberge bringt Dich hin oder weg,
Zwischen Wittenberge und Berlin liegt die
historisch schnellste Strecke der Bahn.
Züge sind auch immer ein Fortschrittsindikator.
Ohne den Bahnhof gäbe es Wittenberge nicht.
Bahnhöfe schaffen Städte und wenn sie weg sind,
ist der Ort auch bald weg, wie Lenzen und Dömitz.
So lange noch der Bahndamm da ist, so lange
der Stahl der Schiene noch im Boden, so lange
ist noch Hoffnung. Hoffnung, daß jemand den
korruptesten Bahnscheuerer besticht und er
eine Strecke wiederbedampft. Dampf gibt es aber
nicht mehr, also elektrifiziert, bewindkraftet oder
besonnt. Züge sind sinnlich.
Lokomotiven sind wie
Aladins Teppiche: Mit offenem Mund dahinschlafend
bringen sie die Träumer an ihre Ziele. Züge lassen die Welt
vorbeiziehen und vermitteln den Eindruck, alles gesehen
zu haben. In den Bädern der Züge kann man Urin-
und in den Abteilen Schlafstudien machen.
Züge sind tolerant. Sie nehmen alle auf. Auch in der
ersten Klasse kann man auf dem Fußboden sitzen,
jedoch passiert es nur im Großraum Brüssel.
Züge sind so stringent, dass es sie in Ländern
der Dritten Welt kaum gibt. Züge fahren Zug um Zug.
Zügig. Ohne Improvisation. Ohne Kreativität.
Alte weiße Männer haben Eisenbahnen, die im
Keller immer im Kreis fahren.
Lokomotiven sind die einzigen, die anzüglich
sind: Sie ziehen die Güterwagen von A nach B,
sie bewegen die Waren, viele Waren nach B und
sie bewegten in der Vergangenheit auch die Juden
in die Konzentrationslager, in Viehwaggons.
Schaffen tut der Schaffner, der alles kontrolliert
und die Ware beaufsichtigt.
Züge ziehen uns an. Züge, die uns zurufen:
„Du bist am Zug!“ Mach etwas, sonst bekommst
Du Zug, denn Züge machen auch Wind.
Wir müssen den Zug bekommen.
Zügig Text und Fotos:
Esther Isaak
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